DIE GROSSE ILLUSION
Bielefelder Kinogeschichte(n) aus 125 Jahren
Vorhang auf für eine Hommage an einen einzigartigen erlebnisraum, in dem träume und Illusionen wahr werden. Wenn das Licht ausgeht und der Film startet, saugen uns schon die ersten Bilder auf der großen Leinwand hinein ins geschehen. Den Zauber der Filme kann man nur im Kino spüren. Und es ist nahezu unmöglich, sich der Anziehungskraft des bewegten Bildes zu entziehen. Ein Gefühl, dass drei filmverrückte Bielefelder nur zu gut kennen. Frank bell, Dr. Holger Schettler und Michael Wiegert-Wegener von der Stiftung Tri-Ergon Filmwerk gehen gemeinsam mit dem historischen Museum der Faszination des Kinos von den Anfängen bis heute auf den Grund. Film ab für die bislang größte Sonderausstellung im historischen Museum.
Die Bielefelder Kinogeschichte beginnt bereits 1896, ein Jahr nach der Welturaufführung der ersten Filme in Paris. Bis 1907 waren Filme in dieser Stadt zumeist auf Jahrmärkten, im Varieté sowie in Gaststätten zu sehen. Im Herbst 1907 eröffneten gleich vier Kinos, drei davon in der Niedernstraße, der „Kino-Meile“. Als sich der Film als Medium und Kunst weiterentwickelte, stiegen auch die Ansprüche an die Vorführsäle. Das Kino wollte sich als Lichtspielhaus präsentieren: Große Foyers, Garderoben, gediegene Säle erinnerten an das große Vorbild Theater bis hin zum Gong und dem sich öffnenden Vorhang. Repräsentative Beispiele waren das Palast Kino von 1921 (heute Neue Westfälische), das Gloria von 1928 (heute Benetton, beide Niedernstraße) und das Capitol (heute Zara) von 1936 in der Bahnhofstraße. Bielefeld hat an der frühen Geschichte des Films einen nicht unerheblichen Anteil. Der berühmte Stummfilmregisseur Friedrich Wilhelm Murnau wird hier 1888 geboren und ein Jahr später Joseph Massolle, der mit zwei Freunden das weltweit erste serienreife Lichtton-Verfahren für Film (Tri-Ergon) entwickelt. Die Jahrmarktsattraktion Film mauserte sich rasch zu einer Kunstform, die in den neuen Lichtspielhäusern ihre Tempel fand.
Dramaturgische Weiterentwicklungen und technische Neuerungen wie Tonfilm, Farbfilm, Breitwand, 3D, Stereoton und THX lockten die Zuschauer immer wieder neu in die Filmtheater. Vielfach totgesagt, stand das Kino immer wieder auf – bis heute. Bielefeld wurde vor allem in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer Kinohochburg in Westdeutschland. Mit 57,1 Kinoplätzen je 1.000 Einwohner stand die Stadt in den 1950er-Jahren an siebter Stelle in Westdeutschland. Statistisch gesehen ging damals jeder Einwohner fast 24 Mal im Jahr ins Kino. Die Bielefelder waren filmverrückt, wie die zahlreichen Premieren mit den Stars in jener Zeit beweisen. Gary Cooper, George Nader oder Eddie Constantine waren hier ebenso zu Gast wie Hans Albers, Henny Porten, Romy Schneider oder Mario Adorf. Erstaunlich war die Dichte an Kinos im Stadtgebiet, die sich nicht nur in der Innenstadt, sondern ebenso über die Stadtteile verteilten. Die meisten dieser Lichtspieltheater sind verschwunden, aber die Ausstellung ruft sie wieder in Erinnerung. Geblieben sind Kamera, Lichtwerk im Ravensberger Park, das Kino im Filmhaus sowie die Multiplexe Cinemaxx und bis vor kurzem CineStar. Vor wenigen Jahren ist in Bielefelder Lichtspielhäusern die Umstellung von analoger auf digitale Vorführtechnik abgeschlossen worden. Eine fast 120 Jahre bestehende Technik ist damit aus den Vorführräumen verschwunden. Noch ist der Zeitpunkt günstig, um an die Bielefelder Kinopaläste von einst zu erinnern und den Besuchern die alten Techniken von Film- und Tonwiedergabe im Kino nahezubringen.
Mindestens ebenso wichtig sind die Menschen von der Platzanweiserin bis zum Kinounternehmer, die das Kinovergnügen möglich machen. Die gemeinsame Ausstellung der Stiftung TriErgon Filmwerk mit dem Historischen Museum vergleicht immer wieder das lokale Geschehen mit der internationalen Entwicklung, zeigt die Abhängigkeit der „Provinz“ von internationalen Einflüssen, aber auch Wechselbeziehungen, wie sie z. B. zu Beginn der Tonfilmära zu beobachten sind. Wesentlicher Punkt des Konzeptes ist das Einbeziehen der Besucher, die Aufforderung, selbst mitzumachen, um die Technik zu verstehen. Das weit gefächerte Begleitprogramm umfasst eine
Filmreihe, Vorträge sowie das Angebot von Workshops für Kinder und Jugendliche, z. B. Filmbilder und Ton selbst auf Blankfilm zu zeichnen, Daumenkinos zu gestalten oder an der Trickbox selbst kurze Filme zu drehen.
Historisches Museum Bielefeld, 6. September 2020 bis 25. April 2021
www.historisches-museum-bielefeld.de
www.diegrosseillusion.de
www.tri-ergon-filmwerk.de
Bielefeld wurde vor allem in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer Kinohochburg in Westdeutschland
Friedrich Wilhelm Murnau-Gesellschaft
Wer durch die Ausstellung im Historischen Museum neugierig auf den Bielefelder Regisseur geworden ist, erfährt bei der Friedrich Wilhelm Murnau-Gesellschaft mehr über den berühmten Sohn der Stadt. Und eigentlich hätte das Film+MusikFest auch wieder Gelegenheit geboten, eines der Werke des Regisseurs, der u. a. mit „Nosferatu“ und „Tabu“ Filmgeschichte geschrieben hat, auf großer Leinwand zu erleben. Dass das Stummfi lmfest mit Live-Musik ausgerechnet in diesem Jahr der Corona Pandemie zum Opfer fällt, ist deshalb besonders schade. Dafür verrät die Website der Murnau-Gesellschaft aber jede Menge Wissenswertes über Murnau.
Filmesammler – Frank Becker
Noch ein Filmverrückter aus Bielefeld, der seinen Schatz und sein Wissen mit anderen teilt. „Die Rollen seines Lebens“ – wie „Die Zeit“ in einem Beitrag über Frank Becker schrieb – das sind in diesem Fall über 100.000 Filmrollen. Bereits als Jugendlicher begann der Bielefelder Filme, Kinotechnik und Tonträger zu sammeln. Aus der Leidenschaft hat sich eine enorme Expertise entwickelt – und die vermutlich größte private Filmsammlung in Deutschland. Der Übergang der Bestände in das Medienarchiv Bielefeld | Frank Becker Stiftung im Jahr 2011 war der Startschuss, um aus der Sammlung ein Archiv nach wissenschaftlichen Regeln zu entwickeln.
www.medienarchiv-bielefeld.de
Fotos: Stiftung Tri-Ergon Filmwerk, Friedrich Wilhelm Murnau-Gesellschaft, Tips-Archiv
Autorin: Stefanie Gomoll