Aatifi
DECODIERT, DYNAMISCH UND DURCHDRINGEND EROBERN SCHRIFTZEICHEN DIE FLÄCHE. AATIFI GIBT IHNEN RAUM. DER BIELEFELDER KÜNSTLER ISOLIERT KALLIGRAFISCHE ZEICHEN AUS IHREM UMFELD. AUS EINER NUR KULTURELL VERSTÄNDLICHEN SCHRIFTKUNST ERWÄCHST MIT EINEM PINSELSTRICH EINE NEUE, MALERISCHE FORM. SKRIPTURAL ABSTRAHIERT SIND DIE BUCHSTABEN IHRER BEDEUTUNG BERAUBT. ALS KULTURELLER BRÜCKENSCHLAG STEHEN DIE AUSDRUCKSSTARKEN, ABSTRAKTEN KOMPOSITIONEN LOSGELÖST VON KLASSISCHEN KONVENTIONEN GANZ IM ZEICHEN VON FORM UND BEWEGUNG. UND SIND UNIVERSELL VERSTÄNDLICH.
Ein Bild braucht einen Menschen, der es sieht. Dass meine Bilder Menschen durch ihre universelle Sprache verbinden, ist fantastisch!“, sagt der afghanisch-stämmige Künstler – Maler, Grafiker und Zeichner. Die Kalligrafie begleitet ihn seit seinem 6. Lebensjahr. „Es war ein Fach wie Kunst. Dass Jungen und Mädchen in der Schule Kalligrafie-Unterricht erhalten, ist üblich“, erzählt Aatifi. In seiner Geburtsstadt Kandahar erlernte er die wichtigsten Stile der klassischen islamischen Schriftkunst und ging zu Meisterkalligrafen, um seine Fertigkeiten weiter zu verfeinern. „Es gibt sechs berühmte KalligrafieStile, die sich im Laufe der Jahrhunderte entwickelt, aber auch verändert haben. Dabei hat jeder Stil seine eigene Lehre und Proportionen“, so Aatifi.
Als er sich selbst als Meister der Kalligrafie bezeichnen durfte, war er gut 21 Jahre alt. „Der Titel ist eine Art Erlaubnis, die von einem lehrenden Meister vergeben wird“, erklärt Aatifi, der zunächst an der Universität Kabul und – als er 1995 nach Deutschland kam – ab 1997 an der Hochschule für Bildende Künste Dresden Malerei studierte. Fasziniert hat ihn von Anfang an die Kraft und Ästhetik, die der Kalligrafie innewohnt. Geheimnisvolle Linien und Figuren – die hat er bereits in seiner Kindheit in den Buchstaben gesehen. Zerstört und wiederaufgebaut verhilft er ihnen zu einer neuen, anderen Ästhetik. Klar und dennoch geheimnisvoll, kraftvoll und dennoch poetisch. Mit der ihm eigenen reduzierten Bildsprache, die ohne jeden Textbezug auskommt. Vom geografischen Ort befreit. Die Bedeutung der Schrift ist für ihn nicht wichtig. Die Abstraktion selbst fasziniert und bewegt ihn umso mehr. „Es gab sehr unterschiedliche Ebenen in meiner Arbeit. Aber irgendwann habe ich einen Punkt erreicht, den ich Grenze nennen kann. Ich kam nicht voran.
Das war in Dresden, obwohl ich in Afghanistan bereits mehrere Ebenen in der Form überschritten hatte“, erinnert sich Aatifi. „Es war auf einmal Stopp! Ich war herausgefordert, meine Kontrolle über die Form ganz zu verlieren.“ In diesen Jahren entwickelte er eine ganz besondere Beziehung zur Form. Und es wuchs die Erkenntnis: „Die Form der Kalligrafie ist eine überirdische und sie verlangt einen freien Umgang mit der Sache!“
Die Sache zwischen ihm und der Form sei inzwischen klar. Er verliere die Kontrolle über sie und damit sei die flüssige Tusche nur eine Verbindung. Die Form mache, was sie wolle, so der Künstler: „Die Buchstaben, die ursprünglich mal waren, sie sind heute ein konzentrierter Gehalt meines künstlerischen Ausdrucks.“ Sie scheinen gleichzeitig zu fallen und zu fliegen. „Somit denke ich, habe ich das Innere der Form durchdrungen“, erklärt Aatifi, der 2015 auf Einladung des Museums für Islamische Kunst im Pergamonmuseum Berlin mit der Einzelausstellung „News from Afghanistan“ zeitgenössische Kunst in Bezug zur islamischen Welt setzte. Zwei Dutzend großformatige Malereien und Papierarbeiten waren für dreieinhalb Monate zwischen historischen Kulturobjekten integriert. Ein Teil davon ist in die Museumssammlung eingegangen. Zwei Filme gaben Einblick in die Entstehung und Entwicklung der skripturalen Kunst und die lange Tradition islamischer Kalligrafie. Ausschnitte daraus sind fortan in der Dauerausstellung des Ethnologischen Museums im Humboldt Forum Berlin zu sehen. „Sie sind alles andere als eine Dokumentation“, so Aatifi. Abstrakt wie seine Arbeiten beflügeln sie die Fantasie. Eine filmische Impression bietet auch der im Atelier und Schauraum vom Künstler selbst gedrehte Videofilm (www.simonbart.com/artists/aatifi/), der im Frühjahr 2020 entstanden ist. Zur Zeit der Pandemie.
Seit 1999 lebt er in Bielefeld, hat hier sein Atelier. Als er 2010 zum ersten Mal in sein Geburtsland zurückkehrte, entdeckte er das Licht und die Farben auf eine ganz neue Weise wieder. „Das hat mich aufgeweckt“, erzählt Aatifi, der die Farbenpracht, die Formenvielfalt und Lichtfülle des Orients in sich trägt und sie auf Leinwand und Papier zum Leuchten bringt. „In meinen ersten Jahren habe ich sehr monochrom gearbeitet“, stellt er rückblickend fest. Doch auch bei seinen monochromen Arbeiten scheint selbst das Schwarz zu leuchten. So, wie das immer wiederkehrende Lapislazuli-Blau. „Es besitzt Tiefe, Intensität und gleichzeitig Transparenz“, schwärmt Aatifi, der seine Werkzeuge ebenso selbst herstellt wie seine Farben. „Andere Farben verblassen durch UV-Licht, nur das Blau auf Lapislazuli-Basis bleibt.“ Gleichzeitig ist die Farbwahl ein Verweis auf die großen LapislazuliVorkommen in Afghanistan, die schon die alten Ägypter, aber auch Michelangelo zu schätzen wussten. „Heute lebe ich an einem Ort, an dem ich meine Arbeit erforschen kann“, betont Aatifi. Die Gedanken, die bei seinen Spaziergängen in und um Bielefeld entstehen, sind der Rohstoff für seine nächsten Arbeiten. Wenn er dem Weiß der Leinwand gegenübersteht, lässt er sich auf die reine Ästhetik der Form ein. Und bringt seine Philosophie, seine Persönlichkeit und seine Wahrnehmung der Welt darin zum Ausdruck. „Die Malerei ist ein Ausschnitt aus biografischen Daten und friert ein Quantum Zeit für immer ein. Und sie ist ein Teil unserer Kultur“, unterstreicht Aatifi, der mit seinem Œuvre zwei große Kulturräume miteinander verbindet. www.aatifi.de
Termine:
Ausstellungseröffnung zu den Nachtansichten „Aatifi – Mark Tobey“
Dr. Annette Müller-Held aus Bad Oeynhausen ist als Kooperationspartnerin in die Ausstellung involviert. Sie stellt Arbeiten u.a. Farbradierungen von Mark Tobey (USA) zur Verfügung.
18.9.21, 18:00 bis 1:00 Uhr 19.9. bis 17.10.21, Sa./ So. 12:00 bis 18:00
sowie nach Vereinbarung
Schauraum Atelier Aatifi, Ravensberger Str. 47 (Hinterhaus)
Arbeiten von Aatifi werden 2021/2022 auf internationalen Kunstmessen wie paper positions Basel während der Basel Art Week oder POSITIONS/paper
positions Berlin zu sehen sein. Ausstellung im Schauraum Atelier Aatifi
Mitte November und Dezember 2021, Ravensberger Str. 47 (Hinterhaus)