Die neue Spielzeit

Hemmungslose Freundlichkeit

„AM LIEBSTEN“, VERRÄT INTENDANT MICHAEL HEICKS BEI DER VORSTELLUNG DER THEATERSAISON 2021/22, „MÖCHTE ICH EIN BESTIMMTES WORT GAR NICHT MEHR AUSSPRECHEN. WIR HOFFEN, DASS ES DIE NÄCHSTE SAISON NICHT MEHR PRÄGT.“ DIE LETZTEN SPIELZEITEN HAT CORONA DEFINITIV DURCHEINANDERGEWIRBELT, IMMER WIEDER NEUE PLANUNGEN ERFORDERLICH UND ECHTE BEGEGNUNGEN BEINAHE UNMÖGLICH GEMACHT.

Umso mehr freut sich das Theater Bielefeld darauf, im Herbst seine Türen weit zu öffnen und alle einzuladen, hemmungslos freundlich zu sein. Viele neue Produktionen sowie lieb gewonnene Stücke, die coronabedingt kaum oder gar nicht gezeigt werden konnten, stehen auf dem Spielplan. Das Spielzeitmotto „Hemmungslose Freundlichkeit“ bezieht sich aber nicht nur auf die Wiedersehensfreude. Die Redewendung entstand aus einem kollektiven Impuls der Ensembles als Reaktion auf den rechtsextremen Anschlag in Hanau im Februar 2020. Unmittelbar nach diesem schrecklichen Ereignis unterbrachen die Darsteller*innen nach den Vorstellungen den Schlussapplaus und riefen auf zu einem Lächeln statt Tatenlosigkeit. Die Reaktion war immer dieselbe: Im Zuschauerraum kam Beifall auf, das Publikum erhob sich und für einen Moment stand niemand allein. Genau dieses intensive Gefühl von Gemeinschaft macht für Michael Heicks Theater im Innersten aus. Die neue Saison bietet reichlich Gelegenheit für gemeinsames Erleben. Das Musiktheater eröffnet mit der Uraufführung „Odysseus‘ Heimkehr“ des jungen Komponisten Sebastian Schwab. Er spinnt Monteverdis Oper weiter, taucht ein in die weibliche Perspektive und verleiht nicht nur Penelope eine eigene, moderne Stimme, sondern dem ganzen Werk ein neues Klanggewand. Eine Frau steht auch in dem turbulenten Musical „The Goodbye Girl“ im Mittelpunkt des Geschehens: Paula McFadden, ehemalige Broadway-Tänzerin mit Teenie-Tochter, wird von ihrem Lebensgefährten sitzengelassen. Ihre Wohnung hat er auch gleich weitervermietet, und als der neue Mieter nachts vor der Tür steht, fliegen erst einmal die Fetzen. Nadja Loschky, künstlerische Leiterin des Musiktheaters, freut sich auf einen „phantastischen Broadway-Sound und swingende Melodien“. Auf Antonin Dvoráks „Rusalka“ und Richard Strauss’ Oper „Ariadne auf Naxos“ folgt „Der Besucher“. Die Kammeropern-Uraufführung bietet Neues Musiktheater von und (nicht nur) für junge Leute und behandelt auf vielschichtige Weise das Thema „Fremdsein“. Außerdem stehen unter anderem Puccinis „La Bohème“ sowie „Die Entführung aus dem Serail“ auf dem Programm, worauf sich Alexander Kalajdzic besonders freut. „Welches die beste Mozart-Oper ist, kann man nicht sagen, aber das ist meine Lieblingsoper“, unterstreicht der Generalmusikdirektor.

TANZ Bielefeld startet mit der zweiten Ausgabe von „D3 – Dance Discovers Digital“. „Anima Obscura“ widmet sich dem Traum vom ewigen Leben – ein sinnliches Theatererlebnis zwischen intensiver Körperlichkeit und faszinierenden digitalen Bildwelten. In „Puls“ interessiert sich Chefchoreograf Simone Sandroni für die Frage, „wie sich rhythmisches Miteinander in verschiedenen Kulturen auf die Gesellschaft auswirkt.“ Mit dem Komponisten Francesco Antonioni spürt er der archaischen Magie des Tanzes nach. Es folgen die Uraufführungen „4 x 4“ sowie „A f***ing crazy show about the madness of the stage“, bei dem das Tanzensemble an seine mentalen und physischen Grenzen geht.

Das Schauspiel beginnt mit Anna Jelena Schultes Stück „Die Normalen“, das wir ab Seite 84 ausführlich vorstellen. Anschließend zeichnet Klaus Manns „Mephisto“ ein bestechend präzises Bild des Who-is-who der 30er Jahre in Deutschland – und appelliert an die Verantwortung jedes Einzelnen in Zeiten politischer Umbrüche. „Mephisto“ gehört ebenso wie u. a. Christian Frankes „Two women waiting for“ über die Freundschaft zwischen Philosophin Hannah Arendt und Autorin Mary McCarthy sowie Hauptmanns „Rose Bernd“ zu den Produktionen, deren Premieren aus den vergangenen Spielzeiten verschoben wurden. Außerdem wird „Der Räuber Hotzenplotz“ nach der begeistert aufgenommenen Streaming Premiere endlich live vor Publikum gezeigt. Eine Uraufführung steht mit Oliver Bukowskis „Warten auf‘n Bus“ auf dem Programm – ursprünglich eine TV Comedyserie des Rundfunks Berlin-Brandenburg. Ralle und Hannes treffen sich Tag für Tag an einer Bushaltestelle in der tiefsten Provinz und philosophieren über die Gesellschaft, die sie an den Rand gespült hat. Ein Stoff, der so herzergreifend, todtraurig und zum Brüllen komisch ist, hat unbedingt auch Potential für das Theater. In Isobel McArthurs „Stolz und Vorurteil* (*oder so)“ wird aus dem Roman von Jane Austen eine rasante Karaoke-Show, erzählt aus Sicht der Dienstmädchen. Der Protagonist in Jonathan Safran Foers Erfolgsroman „Extrem laut und unglaublich nah“ ist der neunjährige Oskall Schell, der sich nach dem Tod seines Vaters amSeptember im World Trade Center auf eine abenteuerliche Suche durch New York begibt. Am Ende der Spielzeit gestaltet das Kollektiv Henrike Iglesias gemeinsam mit der Autorin Olivia Wenzel und Schauspielerinnen des Theaters mit „Träume süß von sauren Gurken“ eine interviewbasierte Performance zum Thema Altern. Zudem wagt sich das Schauspielensemble mit „Familie Phlox explodiert“ bereits zum dritten Mal an ein Projekt, das von der Idee bis zur Premiere in eigener Verantwortung entsteht. „Wir freuen uns sehr auf das Publikum und ein normales Theaterleben“, resümiert Schauspieldirektor Dariusch Yazdkhasti. „Wir wollen da sein für die Stadtgesellschaft, wollen mehr Schönheit, Gerechtigkeit, Diversität und hemmungslose Freundlichkeit. Unser Projekt ist die Wiederverzauberung der Welt.


Infos zum kompletten Programm im Spielzeitheft und unter www.theater-bielefeld.de

Fotos: Joseph Ruben, Philipp Ottendörfer, Bettina Stöß

ACH, WIE SCHÖN!


DREI KLEINE BUCHSTABEN ERGEBEN EINEN VERBALEN ALLESKÖNNER.

40 JAHRE THEATERLABOR


EINER DER GROSSEN GLÜCKSFÄLLE IN DER GESCHICHTE DES THEATERLABORS.

Große Erwartungen


Die Realität des Steckrübenwinters 1919 in Berlin trifft in „Madame Dubarry“ auf das elegante Rokoko eines märchenhaft imaginierten vorrevolutionären Zeitalters. Ernst Lubitsch zeigt den Aufstieg und Fall einer jungen Hutmacherin zur Mätresse des französischen Königs und mächtigsten Frau Frankreichs. „Die Stadt ohne Juden“ von K. H. Breslauer hingegen ist ein Titel, der uns heute das Blut in den Adern gefrieren lässt. 1924 gedreht, nach fast 100 Jahren wiederentdeckt und restauriert, nimmt der Film zum ersten Mal überhaupt das Thema Antisemitismus auf und setzt es in eine satirische Dystopie von unfassbarer Hellsichtigkeit über die Hetze gegen Juden um. Anders als in der Realität wenige Jahre später geht die Filmgeschichte jedoch besser aus. Der Massenhysterie folgt die Ernüchterung. Ohne Juden wird alles schlimmer in Utopia. Weiter geht’s mit dem „Kino für Kurze“, einem amüsanten Kurzfilmprogramm für die ganze Familie, gefolgt von „The Goose Woman“.

Anders als geplant


Theater und Konzerte leben von Begegnungen. Von Nähe und Austausch – auf der Bühne, im Orchestergraben und mit dem Publikum. Eigentlich das pure Gegenteil von Social Distancing. Dennoch ist es dem Theater und den Philharmonikern gelungen, eine Corona-kompatible Spielzeit zu planen.