Nemanja Radulovic
UNGEBÄNDIGT
SEINE WILDE LÖWENMÄHNE BÄNDIGT ER MANCHMAL LOCKER ZUM KNOTEN VERSCHLUNGEN. DOCH MEIST STEHT DER SERBISCH-FRANZÖSISCHE GEIGER NEMANJA RADULOVIĆ – DAS PERSONIFIZIERTE PLÄDOYER GEGEN DIE UNIFORMITÄT IM KONZERTSAAL, DAS GLATTGEBÜRSTETE UND ERWARTBARE – MIT OFFENEM HAAR AUF DER BÜHNE.
GLÜCKLICHERWEISE IST ES IHM NUR EINMAL WIRKLICH IN DIE QUERE GEKOMMEN. IM INTERVIEW MIT CLEMENS NICOL
BEI „U21 – DAS VERHÖR“ ERZÄHLT ER MIT VERSCHMITZTEM LÄCHELN, WIE SICH SEIN BOGEN VOR EINIGEN JAHREN IN DEN HAAREN SAMT HAARKLAMMER VERHAKTE, WÄHREND ER TZIGANE VON RAVEL SPIELTE. ANSONSTEN GEIGT ER UNFALLFREI MIT EXPLOSIVER WUCHT UND EXTREMER SPIELFREUDE – FEINE INTERPRETATIONSKUNST, BLITZSAUBERE TECHNIK UND SCHLANKE TONGEBUNG INKLUSIVE.
Schon die Zeitschrift Gramophone lobt seine „vorzügliche Technik und den erlesenen Ton“ sowie seinen „ungebundenen Geist“. Für Nemanja Raduloviý selbst ist Musik das Lebenselixier. Neben Bach und Beethoven ist Mozart Raduloviýs erklärter Liebling. „Zu Bach und Mozart habe ich die engste Bindung.“ Aber auch Rock, Pop und Heavy Metal sind seins – er ist offen für verschiedenste Genres. Und er ist ein Bühnenmensch. Hier fühlt er sich wohl, kann mit seinem Publikum kommunizieren und seine Stimmung auf die Menschen übertragen. Vor allem aber möchte er die Dinge, die er von ganzem Herzen liebt, teilen. „Ich möchte einfach, dass das Publikum durch die Musik, die ich spiele, wahre Emotionen empfindet. Das ist mein Ziel“, macht er immer wieder deutlich. 8nd ohne Frage gehört Nemanja Raduloviý zu den Künstlern, die für die gesamte Bandbreite menschlicher Emotionen offen sind und sie durch ihr Instrument transportieren können. Höhen ebenso wie Tiefen. Die Grenzen klassischer Musik zu weiten, Menschen unterschiedlicher Generationen und verschiedenster Herkunft zu erreichen und ihnen Einblick ins Geigenrepertoire zu ermöglichen, ist ihm ein Bedürfnis. „Ich versuche nicht, Geschichtsunterricht zu geben oder eine Lektion im Geigenspiel zu erteilen“, sagt er. „Ich will einfach, dass die Menschen durch meine Musik echte Gefühle empfi nden.“ Dies scheint ihm leicht zu fallen. Völlig zu Recht ist er ein großer Publikumsmagnet. Präsentiert er doch eine junge, innovative Künstlergeneration, die mit erfrischenden Interpretationen neuen Wind in die Konzertsäle bringt. Das dürfte ihm auch mit so einem bekannten – und häufi g aufgeführtem – Werk wie den „Vier Jahreszeiten“ gelingen, das er für Bielefeld im Gepäck hat. Wie viele Möglichkeiten Vivaldis Komposition bietet, war Nemanja Raduloviý nach einem Blick auf die Noten klar. „Man kann ein ganzes Leben damit verbringen, diese Möglichkeiten zu entdecken“, stellt er im Interview mit BR Klassik fest. Sein Anspruch ist es, mit einem neuen Blickwinkel auch eine Verbindung zur heutigen Zeit herzustellen. Modern interpretiert, aber kein Crossover. Eine zeitgemäße Version ohne den Notentext zu verlassen. Schließlich hat sich, seit Vivaldi das Werk komponierte, einiges verändert. Die Tempi ebenso wie die Möglichkeiten der Instrumente.
Mit sieben Jahren beginnt er mit dem Geigenunterricht und zeigt eine bemerkenswerte Begabung. Von seiner musikalischen Familie ermutigt, besucht Nemanja Raduloviý, der 198 in Niä, das zum damaligen Jugoslawien gehörte, geboren wurde, die örtliche Musikschule. Hier erkennt man schnell, dass er über ein absolutes Gehör verfügt. Noch überraschender ist jedoch, dass er dann innerhalb von nur zwei Wochen das komplette Pensum des dreijährigen Kurses bewältigt. Um die Technik und die Bewältigung des Instruments muss er nie wirklich ringen. Und so debütiert er bereits sechs Monate, nachdem er zum ersten Mal eine Geige in die Hand genommen hat, als Solist in einem Vivaldi-Konzert.
Die Macht der Musik trägt ihn seitdem. Durch Höhen, aber auch Tiefen wie den Balkankrieg.
Später studiert er in Belgrad und Saarbrücken bei Joshua Epstein. Kurz nach seinem 14. Geburtstag folgt ein entscheidender Schritt: Er zieht mit seiner Familie nach Paris, wo er heute noch lebt, und setzt sein Studium am Pariser Konservatorium fort. In der darauffolgenden Zeit erspielt er sich zahlreiche renommierte Preise und Auszeichnungen: 2001 gewinnt er den ersten Preis beim Internationalen George Enescu-Wettbewerb, zwei Jahre später geht er als Sieger des Internationalen Joseph Joachim Violinwettbewerbs in Hannover hervor. Bei den bekannten Victoires de la musiTue classiTue in Paris wird er 200 in der Kategorie „Internationale
Entdeckung des Jahres“ ausgezeichnet, neun Jahre später erhält er dort den Preis als „Instrumentalsolist des Jahres“. 201 unterzeichnet Nemanja Raduloviý dann einen Exklusivvertrag mit Deutsche Grammophon. Journey East, sein erstes internationales Album für das gelbe Label, erscheint im Februar 2015. Es bringt ihm den ECHO-Preis als „Nachwuchskünstler des Jahres“ ein. Das Album, das er seiner Mutter widmet und das voller persönlicher Bezüge ist, bietet mit Musik von u. a. Brahms, Dvoőik und Chatschaturjan Werke, die in Osteuropa ihre Wurzeln haben.
Den internationalen Durchbruch beschert ihm ein glücklicher Zufall, als er 2000 – für Maxim Vengerov einspringt. Er begeistert die Kritiker als
Solist in Beethovens Violinkonzert mit dem Orchestre PhilharmoniTue
de Radio France. Ein Jahr später findet im Rahmen der Reihe „Rising
Stars“ sein Recital-Debüt in der Carnegie Hall statt. Ebenfalls ein voller
Erfolg, denn er erhält „stürmische Ovationen“, so die New York Times.
Mittlerweile ist das Geigen-„enfant-terrible“ mit vielen internationalen
Spitzenorchestern aufgetreten. Mit den Münchner Philharmonikern, dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin ebenso wie mit dem Royal Philharmonic Orchestra und Orchestre symphonie Tue de Montrpal. Als
leidenschaftlicher Kammermusiker ist Nemanja Raduloviý zudem in
führenden internationalen Konzertsälen zuhause: In der New Yorker Carnegie Hall, im Pariser Salle Pleyel und Théktre des Champs-Elysées genauso wie im Teatro Colyn in Buenos Aires oder im Melbourne Recital Centre. Besonders gern spielt er – nicht nur wegen der Akustik – allerdings in Belgrads Konzertsaal Kolarac Kapetan Miäino Zdanje. Kein Wunder, schließlich löste er dort schon bei seinem ersten Auftritt als Achtjähriger Begeisterungsstürme aus.
Text: Corinna Bokermann
Foto: Lukas Rotter/Deutsche Grammophon