THEATERSPIELZEIT

Die Würde des Menschen

„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Der Satz, der seit mittlerweile 75 Jahren an erster Stelle des deutschen Grundgesetzes steht, überschreibt die Theaterspielzeit 2024/25. Es ist ein Satz mit Gewicht. Richtungsweisend und inhaltsschwer.

„Mit seiner Absolutheit und seinem Pathos könnte er auch von der Theaterbühne stammen“, sind sich Nadja Loschky und Michael Heicks einig, die als Doppelspitze zum letzten Mal gemeinsam die neue Spielzeit vorstellten. Und so setzen die kommenden mehr als zwanzig Premieren und Uraufführungen auch gesellschaftspolitisch Akzente. „Es geht uns darum, die unantastbare Menschenwürde nicht zur Floskel werden zu lassen, sondern mit Leben und Bedeutung zu füllen“, betont Michael Heicks, der 2025 aus der Doppelspitze ausscheidet. „Vor, auf und hinter der Bühne. Dazu bekennen wir uns mit diesem Spielzeitmotto.“ Dafür steht auch gleich zum Auftakt der Saison das Musiktheater. „Die goldenen 1920er sind noch da, aber die 1930er sind schon spürbar“, erklärt Michael Heicks mit Blick auf „Cabaret“ (6.9.), eines der meistgespielten Musicals weltweit. Denn in der Geschichte über Sally Bowles, den Nachtclub-Star Berlins der frühen 1930er-Jahre, drohen Show und Leichtigkeit unter den Zwischentönen der politischen Bedrohungslage zu gerinnen. Als „brisant und allgegenwärtig“ bezeichnet Generalmusikdirektor Alexander Kalajdzic, der wie Michael Heicks zum letzten Mal den Spielplan vorstellte, die erste Oper der Saison.

Mit „Don Giovanni“ (4.10.) setzt sich das Duo Wolfgang Amadeus Mozart und Lorenzo Da Ponte über das ungeschriebene Gesetz hinweg, am Ende wieder den Weg zurück zu gesellschaftlicher Zucht und Ordnung zu finden. Das Format Lichtspieloper geht mit der gut einstündigen Oper „Herzog Blaubarts Burg“ (18.10.) von Béla Bartók in eine neue Runde. „In der Rudolf-Oetker-Halle müssen wir nichts reduzieren“, freut sich der Generalmusikdirektor bereits auf die volle Klangfarbe. Basierend auf Tennessee Williams’ gleichnamigem Drama schuf André Previn mit „A Streetcar Named Desire“ (Endstation Sehnsucht) (7.12.) ein packendes Werk für die Opernbühne. „Damit wollen wir eine neue Farbe von Musiktheater zeigen“, betont Alexander Kalajdzic. Mit „Hoffmanns Erzählungen“ (1.3.25) von Jacques Offenbach folgt das wohl berühmteste Fragment der Opernliteratur. „Ein Stück, was es eigentlich nicht gibt“, wie er sagt und von drei Erzählungen E. T. A. Hoffmanns inspiriert. Seine wohl reifste Oper gestaltete der tschechische Komponist Bohuslav Martinu mit „Die griechische Passion“ (26.4.) aus der Vorlage von Nikos Kazantzakis. Nicht nur in der bekannten Verfilmung von François Truffaut, auch auf der Theaterbühne wurde Ray Bradburys Science-Fiction-Roman „Fahrenheit 451“ (17.5.25) von 1953 vielfach umgesetzt. „Es ist unsere zweite spartenübergreifende Produktion“, wie Michael Heicks unterstreicht. Die Songs der britischen Band Radiohead (die Aufführungsrechte sind noch aktuell in Abstimmung) sieht er als „kongeniale Erweiterung und Resonanzraum für brennende Fragen, die sich stellen, wenn Kultur und Freiheit gefährdet sind“. Mit „Alice im Wunderland“ (7.6.25) von Pierangelo Valtinoni knüpft das Theater Bielefeld schließlich an vergangene Familienopern an und bringt eine weitere Produktion als deutsche Erstaufführung für Groß und Klein auf die Stadttheaterbühne. „Wir wollen das Thema Familienoper weiter ausbauen“, betont Nadja Loschky, die die Inszenierung verantwortet. Verdis „Falstaff“ (11.10) und Puccinis „La Bohème“ (11.1.25) stehen als Wiederaufnahme schließlich erneut auf dem Spielplan.

„Great Expectations“ (26.10.) ist der Titel der ersten Uraufführung von Felix Landerers zweiter Spielzeit als Künstlerischer Leiter des Ensembles von TANZ Bielefeld. „Es geht um den Umgang mit Erwartungen und Sehgewohnheiten. Es ist ein Abenteuer, auf das ich mich sehr freue. Auch, weil es eine direkte Verbindung zu den Zuschauer*innen herstellt“, erklärt Felix Landerer. Der Neukomposition von Christof Littmann steht barocke Musik gegenüber, gespielt von den Bielefelder Philharmonikern. Um Glück, Zufall und Willkür dreht sich anschließend der Tanzabend „Fortuna“ (17.1.25). Das Gemeinschaftsprojekt der Choreografen Felix Landerer und Giuseppe Spota ist eine Kooperation zwischen TANZ Bielefeld und dem Bern Ballett und wird im TOR 6 Theaterhaus zu sehen sein. „Das wird auch uns herausfordern“ ist sich Felix Landerer sicher. Für zwei Vorstellungen – eine in Bern, eine in Bielefeld – stehen insgesamt 25 Tänzer*innen beider Kompanien auf der Bühne. Für seine dritte Produktion lädt TANZ Bielefeld gleich zwei Gastchoreograf*innen ein: Paloma Muñoz und Johannes Wieland. Beide sind bekannte Größen in der internationalen Tanzlandschaft und wurden mehrfach für ihre Werke ausgezeichnet. Für ihren Double Bill-Abend (5.4.25) teilen sie den Wunsch, die rasante Zeit anzuhalten und sich auf einen authentischen Dialog einzulassen. Durch die alljährliche Internationale Gastspielwoche Tanz (19.-23.2.25) wird Bielefeld schließlich zum Hotspot wegweisender Stimmen im Tanz. In der Internationalen Gastspielwoche Tanz präsentiert TANZ Bielefeld gleich zwei Produktionen. Mit Talk-Formaten und Workshops sollen Orte der Begegnung und Interaktion mit dem Publikum entstehen. Den Saisonabschluss bildet das neue Format „Carte Blanche“ (10./11.7.25), wo Ensembletänzer*innen eigene Choreografien entwickeln und im FZZ Baumheide präsentieren.

Ein absolutes Kultstück eröffnet in diesem Jahr das Schauspiel: Agatha Christies „Die Mausefalle“ (13.9.) sorgt seit siebzig Jahren für ausverkaufte Häuser und gilt als das am längsten ununterbrochen gespielte Theaterstück der Welt. „Wir machen das eigentlich nie und haben daher die Urmutter des Krimis gewählt“, schmunzelt Schauspieldirektor Dariusch Yazdkhasti. Thomas Köcks „antigone. ein requiem“, eine »rekomposition« von Sophokles´ Tragödie (14.9.), lädt das antike Personal mit zeitgenössischer Bedeutung auf. „Es ist eine Neubearbeitung, die uns schon einige Jahre umtreibt, in der wir Themen wie Werte und Würde thematisieren und das zum Diskurs einlädt“, so der Schauspieldirektor. In der deutschsprachigen Erstaufführung von „Age is a Feeling“ (27.9.) erzählt Haley McGee lebensbejahend und vielschichtig die Geschichte eines Lebens vom Tag des 25. Geburtstags bis zum Tod. Das Spannende: Nicht alle Geschichten werden bei jeder Aufführung erzählt, sechs der insgesamt zwölf werden jedes Mal unvorhersehbar gelost und gespielt. So entstehen immer wieder andere Abende. In der Komödie „Grand Horizons“ (8.11.) möchte Nancy sich nach fünfzig Jahren Ehe scheiden lassen. Ihr Mann Bill ist sofort einverstanden. Betrug, Verrat, Verletzungen – eine humorvolle und herzerweichende Studie über alles, was Familien und Beziehungen ausmacht“, kommentiert Dariusch Yazdkhasti Bess Wohls Stück.

Eine der ganz großen begeisternden Figuren wählte das Theater Bielefeld fürs diesjährige Weihnachtsstück: „Pippi Langstrumpf“ (16.11.), Astrid Lindgrens Kinderbuchklassiker wird das Familienstück zur Weihnachtszeit. Mareike Fallwickl gibt in „Die Wut, die bleibt“ (23.11.) einen intimen Einblick in das, was viel zu oft selbstverständlich scheint: den Alltag weiblicher Selbstaufopferung zwischen Care-Arbeit, Karriere und Körper.

Mit „Wolf“ kommt nach „Herkunft“ eine weitere Bearbeitung eines Romans von Saša Stanišic auf die Bühne. „Es geht um Machtstrukturen unter Jugendlichen und die Freiheit, anders sein zu dürfen“, so Nadja Loschky. Einfühlsam zeichnet Tom Ratcliffe in „Trümmer“ (Wreckage) (31.1.25) schließlich eine Lebensgeschichte, die von dem Verlust eines geliebten Menschen geprägt ist und scheut dabei nicht den Blick in die Zukunft, der trotz aller Trauer mit Liebe und Hoffnung gefüllt sein kann. Scharf, spritzig und gnadenlos behandelt Yasmina Reza in ihrem Kammerspiel Kultstück „Der Gott des Gemetzels“ (1.2.25) die zwischenmenschlichen Abgründe, die sich oft auftun, wenn man unter der Oberfläche schürft. Nino Haratischwili kombiniert in „Penthesilea. Ein Requiem“ (21.3.25) antikes Pathos mit moderner Figurenpsychologie und setzt den Fokus auf das Zusammentreffen zweier Welten, die sich auf ihre Unterschiedlichkeiten berufen. „Ein Stück, dass die Heroen vom Sockel holt“, wie der Schauspieldirektor feststellt. Francis Scott Fitzgerald schafft mit „Der große Gatsby“ (22.3.25) den wohl glamourösesten Gastgeber legendärer Partys in der modernen Weltliteratur und zeichnet ein gleichermaßen schillerndes wie brüchiges Bild der 1920er-Jahre. Lessings „Nathan der Weise“ (29.3.25): Das ist Aufklärung inklusive Toleranz zwischen den drei monotheistischen Religionen Islam, Judentum und Christentum, oder? Wucht. Ein neues Recherche-Projekt (10.5.25) durchleuchtet im TAM rechtsextreme Strukturen und wirft einen Blick hinter die Kulissen unseres Rechtsstaats und den Umgang unserer Gesellschaft mit Rechtsextremismus. Patty Kim Hamilton und Elias Kosanke verdichten in der Uraufführung „Queer Song Night“ (16.5.25) schließlich persönliche und kollektive queere Geschichten und Musik zu einem Theatertext, der mit viel Lebenskraft, Feingefühl und Glamour auf die Bühne kommt. „Ein Thema, das ins Herz der Stadt gehört“, wie alle unisono betonen. Als Wiederaufnahmen stehen der Janis-Joplin-Abend „Cry Baby“ (19.9.) sowie die „Optimistinnen“ (15.10.) und „Nicht mein Feuer“ (Sept./Okt. 2024)

auf dem Programm.

Die Vermittlungsabteilung jungplusX ergänzt die Premieren in Musiktheater, Schauspiel und Tanz mit eigenen Produktionen. So finden auch in der kommenden Spielzeit unter dem Titel „Schrittmacher“ drei Community-Dance-Projekte statt. Natürlich bringt auch der Jugendclub des Theaters wieder eine Produktion mit Aufführungsserie auf die Bühne. Wer eine Idee für einen Stoff oder ein Thema hat, kann sich für das Format „Selbstauslöser“ bewerben, um dann mit professioneller Unterstützung eine eigene Inszenierung herauszubringen. Am Ende der Spielzeit gibt es im Rahmen einer szenischen Lesung erste Einblicke in das nächste „Parallele Welten“-Projekt. Die Produktion aus der vergangenen Saison, „Parallele Welten – Anne, Mama, Mamulya“, kehrt im September zurück auf den Spielplan. Im Juni heißt es im Theater am Alten Markt wieder „Bühne frei!“ für junge Theaterensembles: Im Rahmen von „play! – Festival Junges Theater“ zeigen Akteur*innen unterschiedlicher Schulen und Träger ihre Produktionen und interagieren in Workshops.

Das Spielzeitheft mit dem gesamten Programm der Saison 2024/25 ist seit Anfang Juni erhältlich. Der Kartenvorverkauf für die ersten Produktionen läuft.

Bu: Nadja Loschky (Intendantin), Alexander Kalajdzic (Generalmusikdirektor), Martina Breinlinger (Theaterpädagogin), Michael Mund (Operndirektor), Stefanie Niedermeier (Verwaltungsdirektorin), Felix Landerer (Künstlerischer Leiter TANZ Bielefeld), Dariusch Yazdkhasti (Schauspieldirektor), Michael Heicks (Intendant)(v.l.)

Wiederaufnahme von „La Bohème“ (ab 11.01.) sowie aktuelle Fotos von der Intendanz bzw. den Spartenleitern: Felix Landerer (für „Great Expectations“ ab 26.10. und „Fortuna“ ab 17.01.), Dariusch Yazdkhasti (inszeniert „antigone“ ab 14.09., „Rosige Aussichten (Grand Horizons)“ ab 08.11. und gemeinsam mit Konrad Kästner „Nathan der Weise“ ab 29.03.), Michael Heicks (inszeniert „Cabaret“ ab 06.09., „Der Gott des Gemetzels“ ab 01.02. und „Fahrenheit 451“ ab 17.05.), Nadja Loschky (inszeniert „Wolf“ ab 25.01. und „Alice im Wunderland“ ab 07.06.), und Alexander Kalajdzic (Musikalische Leitung u.a. bei „Herzog Blaubarts Burg“ ab 18.10.).

Text: Corinna Bokermann

UNBÄNDIGE VORFREUDE


OB LIVE-STREAM ODER RADIO-KONZERT – WIE VIELE ANDERE KULTURSCHAFFENDE HABEN SICH AUCH DIE BIELEFELDER PHILHARMONIKER IN DEN LETZTEN MONATEN EINIGES EINFALLEN LASSEN, UM DIE VERBINDUNG ZU IHREM PUBLIKUM ZU HALTEN. UND DOCH KANN NICHTS DIE DIREKTE BEGEGNUNG ERSETZEN.

Heimatwelt Bielefeld


Was bedeutet eigentlich „Heimat“ in einer Stadt, in der Menschen mit kulturellen Wurzeln in über 150 verschiedenen Orten auf der ganzen Welt leben?

BEZAUBERNDE SAISON


DIE SPIELZEIT 2022/23 „WIR ARBEITEN FÜR SIE AN DER WIEDERVERZAUBERUNG DER WELT.“ MIT DIESEM ZIEL STARTET DAS THEATER BIELEFELD IN DIE NEUE SPIELZEIT. „ANGESICHTS SCHWIERIGER ZEITEN HABEN WIR ÜBERLEGT, OB…

Alle Jubeljahre


Hoch die Tassen, Sekt kaltstellen und mitfeiern! Dass sich in dieser Saison die Jubiläen häufen, zeugt von der Vielfalt und Lebendigkeit der Bielefelder Kulturszene, aber auch von ihrem Durchhaltevermögen.